Ein Abgesang auf die EM

Für mich finden sich täglich hunderte Gründe, um meine Wut auf die Straße zu tragen und zu demonstrieren. Die Fußball-EM, die für Kaltland jetzt zum Glück vorbei ist, ist nur einer von Vielen. Allerdings manifestieren sich bei diesem sportlichen Großereignis gleich ein Haufen von Dingen, mit denen ich nicht nur nichts zu tun haben will, sondern die ich schlicht abscheulich finde:

Gemeinsam einer Mannschaft zujubeln, mit der ich nichts gemeinsam habe, außer meiner Staatsbürgerschaft? In der Sozialpsychologie gibt es einen Begriff für dieses Phänomen: basking in reflected glory, auf Deutsch sinngemäß: sich im Erfolg Anderer sonnen. Es beschreibt die individuelle Tendenz, sich durch sozialen Vergleich mit den Erfolgen von Anderen zu assoziieren, um das eigene Selbstwertgefühl zu erhöhen. Ob die Menschen beim Public Viewing auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, was sie da tun?
Ich persönlich möchte meinen Selbstwert nicht durch Andere erhöhen. Ich möchte ihn aus mir selbst und dem ziehen, was ich mache und wer ich bin.

Soll ich mir hässliche weiße Polyester-Shirts anziehen, die ich viel zu teuer von einem viel zu ekligen Verein kaufe, der sich dreist „gemeinnützig“ nennt? Während eben jene Polyester-Shirts von Arbeiter*innen unter den schlechtesten Bedingungen zu einem Hungerlohn in China, Vietnam oder Bangladesh hergestellt werden? 85€ kostet übrigens ein Trikot der Deutschen Nationalmannschaft im UEFA-Shop. 85€! Davon könnte ich mir vier Bände der Marx-Engels-Werke kaufen, eine Vokü für 150 Menschen finanzieren oder linksradikale Projekte in meiner Stadt unterstützen.

In Würzburg wird die Sanderstraße alle zwei Jahre zur Fanmeile. Während Verkehrsbetrieb und Polizei keine Mühen scheuen, die Straße bei jedem Deutschlandspiel stundenlang abzuriegeln, Schienenersatzverkehr zu stellen und danach Aufräumtrupps durch die Straße zu schicken, muss ich mir auf dem Nachhauseweg durch die Fanmeile dumme Kommentare über mein Aussehen oder meine Kleidung anhören, weil irgendwelche besoffenen Vollidioten mit ihrer ganzen Männlichkeit nichts anderes anzufangen wissen, als mich zu begutachten. Aber hey, es ist doch EM, sei mal nicht so verkrampft, war doch nur nett gemeint. Und darüber hinaus legitimiert Alkohol in dieser Kultur jedes noch so beschissene Verhalten. Wäre Gras legal, die Fanmeile wäre deutlich entspannter.
Aber ob ihr Patri-Idioten es glaubt oder nicht: ich bin nicht auf dieser Welt, um euer Belustigung zu dienen. Ich scheiß auf euer Grölen, auf euer Saufen und auf euer Männlichkeitsgehabe. Ich weiß, dass es dazu dient, mich auf meinen Platz in der Geschlechterhierarchie zu verweisen. Doch mich macht es wütend. Und manchmal militant.

Und dann ist da noch dieser ekelhafte, dieser widerliche Patriotismus. Deutschlandfahnen an den Autos, Deutschlandfahnen an den Fenstern, Deutschlandfahnen in den Fressen. Und nicht nur ich frage mich, auf was ihr Feierwütigen eigentlich so stolz seid.
Noch vor eineinhalb Jahren fandet ihr es schlimm, dass die Wutbürger*innen PEGIDAs fahnenschwenkend durch die Innenstädte Dresdens, Leipzigs, Stuttgarts und Münchens gezogen sind. Da fandet ihr den Rassismus verwerflich und falsch. Aber die Pegidist*innen, das waren ja auch irgendwie Rechte, irgendwie AfD, irgendwie Nazis und das war ja auch alles irgendwie eher im Osten. Da sind die ja auch noch viel brauner. Wie viel einfacher ist diese Welt, wenn mensch mit dem Finger auf Andere zeigen kann, wenn mensch den Rassismus in Randgruppen identifiziert und ihn nicht als integralen Bestandteil eigener Sozialisation, dieser Gesellschaft und des kapitalistischen Systems versteht.

Hier jetzt darüber zu schreiben, in welch imperialistischer Manier die Europäische Union andere Länder ausbeutet, Land- und Seagrabbing betreibt, Waffen exportiert und damit die wirtschaftliche und politische Lage produziert, die Menschen zur Flucht treibt, würde leider den Rahmen sprengen. Ich möchte es mir hier nicht einfach machen. Schuld sind nicht „die in Brüssel“ oder „die EU“. Wir leben in einem System, das Profit und Wirtschaftswachstum als die erstrebenswertesten Ziele proklamiert. Eine Ordnung, in der Menschen dafür zugerichtet werden, nicht mehr als „human resources“ zu sein – menschliches Kapital. Was ihr Arbeit nennt, nennen wir Ausbeutung. Was ihr Sicherheit nennt, nennen wir Unterdrückung. Was ihr Krise nennt, nennen wir Kapitalismus.

Der Kapitalismus, der die vorherrschende Ordnung unserer Zeit ist – und schon das sollte stutzig machen, denn wer will eigentlich, dass ein wirtschaftliches System herrscht? – brauchte für seine historische Entwicklung die Bildung von Nationalstaaten. Genauso wie Nationalstaaten den Kapitalismus zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz brauchen. In Zeiten der Globalisierung gibt es die Tendenz zur Bildung supranationaler Zusammenschlüsse, das heißt, Organisationen, die den Nationalstaaten übergeordnet sind, wie die Europäische Union, aber auch Vereine wie die FIFA und UEFA oder Konzerne wie Google oder die Weltbank. Dies bedeutet, dass rechtliche Zuständigkeiten auf eine den Nationen übergeordnete Ebene verlagert werden und so die Demokratie und die Mitbestimmung der Bevölkerung bei politischen Entscheidungen ad absurdum geführt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist Griechenland.
Grade die parlamentarische Demokratie, die von den Mächtigen sehr gerne als Rechtfertigung für Nationalstaaten angeführt wird, entpuppt sich somit in supranationalen Systemen als leere Worthülse.

Egal, ob wir jetzt von PEGIDA reden, von Burschenschaften, die „Heimat, Ehre, Vaterland“ als Wahlspruch haben, von den Identitären, die ihre „abendländische Kultur“ vor fremden Einflüssen bewahren wollen oder fahnenschwenkenden Deutschlandfans, sie alle gedeihen auf dem gleichen rassistischen und ausgrenzenden Nährboden, den der Nationalstaat erschafft.

Ihr lieben Deutschlandfans. Ich sehe keinen Unterschied zwischen euren Fahnen und denen von PEGIDA. Zwischen euren Fahnen und denen von Neonazis bei Naziaufmärschen. Für mich ist das alles das gleiche schwarz-rot-gold. Und das ist – zumindest für mich – Grund genug zum Ausrasten.