Interessenlage der Groß- und Mittelmächte in Syrien

Gegenrede zur Erklärung von Riseup4Rojava BRD vom 27. Oktober 2019

Der Krieg ist nichts anderes als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.
– Carl von Clausewitz

Die Lüge ist eines der wirkungsvolleren Instrumente der Politik und des Krieges. Mächtiger noch als die Lüge ist die Verschwörungstheorie. Die Verschwörungstheorie ist leicht gesagt und schwer widerlegt. Je absurder die Verschwörungstheorie ist, desto wirkmächtiger ist sie, gesetzt dem Fall, es sind einige wahre Brocken eingestreut. Wer sich an einer Widerlegung wagt, gehört zu denen, denn anhand der bruchstückhaften Wahrheit kann jedem Menschen mit halbwegs offenem Verstand die Korrektheit des Restes gezeigt werden.

Die Erklärung von Riseup4Rojava BRD vom 27. Oktober 2019 enthält einiges an Wahrem. Unbestreitbar ist, dass die Türkei am 9. Oktober 2019 mit der großräumigen Besetzung des türkisch-syrischen Grenzgebietes, das unter de-facto-Kontrolle der kurdischen Bevölkerung steht und sich 2016 als Rojava konstituiert hat, begann. Wahr ist, dass der ”Krieg gegen Rojava [. . . ] kein Krieg [ist], der sich lediglich um einige Kilometer Land dreht.“ Wahr ist, dass der türkische Angriffskrieg nur ein Teil eines größeren Plans zur ”[. . . ] Vernichtung der Revolution Rojavas ist.“ Wahr ist, dass „jeder Staat seine eigenen Interessen verfolgt“. Und sinnvoll sind die vier Forderungen, die zum Schluss der Erklärung proklamiert werden: Rückzug der türkischen Armee, Stopp der Zusammenarbeit mit der Türkei, eine politische Lösung für Syrien und Stopp der Kriminalisierung kurdischer Aktivist*innen.
Unwiderlegbar bereits im Prinzip und damit wahlweise im theologischen Religion oder im politischen Verschwörungstheorie ist der gesamte Rest.

1 Jeder Beteiligte hat Partikularinteressen

Das Traktat von Riseup4Rojava BRD konstatiert noch korrekt, dass Staaten Partikularinteressen haben. Diese Interessen seien sogar tiefe Widersprüche“. Anstatt aber diese Widersprüche zu untersuchen und darzulegen, wie sich die Interessen der verschiedenen Mächte manifestieren und sie versuchen, sie durchzusetzen, behauptet das Traktat nun, diese seien nur an der „Oberfläche“. Mit einer solchen Behauptung lässt sich alles und nichts widerlegen: Alles, was ist, scheint nur zu sein und ein Vorwand für die wahren Beweggründe. Obgleich im Rahmen des Möglichen, wie bei jeder Verschwörungstheorie, kann gezeigt werden, dass die Handlungen der meisten Mächte rationalen kurz-, mittel- und langfristigen Motiven folgen oder sie schlicht zur Reaktion gezwungen werden. Realistisch ist daher, dass deren Handlungen zum Erreichen ihrer rationalen vorgeblichen Ziele nicht
nur geschickte Verschleierungen des großen Plans sind, sondern tatsächlich Handlungen zum Erreichen ihrer rationalen echten Ziele.

1.1 Türkei

Die Türkei fühlt sich von der Revolution in Rojava direkt bedroht. Hintergrund ist weniger die Gefahr der Unterstützung kurdischer „Terroristen“ durch die kurdische Bevölkerung jenseits der türkisch-syrischen Grenze, sondern die latente Gefahr der Wiederholung einer kurdischen Autonomiebestrebung auf türkischem Gebiet. Statt, wie von Riseup4Rojava BRD behauptet, „ein ideologischer Krieg“ des Autokraten Erdogan, der von jeder poltischen Raison abgekoppelt ist, hat die Türkei auch abseits der Person Erdogan handfeste langfristige Interessen in Form der Aufrechterhaltung ihres eigenen Staatsgebietes. Ein autonomes Kurdistan an der Südflanke der Türkei kann dem Selbstbewusstsein der kurdischen Bevölkerung innerhalb der Türkei nur Auftrieb verschaffen. Fakt ist, nicht nur Erdogans AKP und die Faschisten von der MHP stehen hinter dessen Entscheidung, sondern auch Erdogan-Kritiker von der CHP. Selbstverständlich ist es ein positiver kurzfristiger Nebeneffekt im Pokerspiel des Machtpolitikers Erdogan, wenn sich die gesamte Nation in Zeiten schwindender Beliebtheit und zunehmender wirtschaftlicher Probleme hinter ihm sammelt.

1.2 Syrien

Der syrische Staat steht mit dem Einmarsch der Türkei auf de-jure-syrisches Territorium formal auf der Verliererseite des Krieges. Tatsächlich jedoch ermöglicht der Angriff auf de-facto-kurdisches Gebiet dem Assad-Regime die verloren gegangene Kontrolle über diese Regionen zurückzuerwerben. Da die Kurden keine Ressourcen haben, dem türkischen Ansturm über längere Zeit effektiv zu widerstehen, müssen sie sich wieder an den de-jure-Souverän wenden, seine Grenzen zu verteidigen, und damit eigene Autonomie aufgeben. Für die syrische Regierung ist daher die Situation ambivalent: Nur wenn die Türkei ihre Truppen wieder aus den kurdischen Gebieten abzieht, hat sie nach dem Angriff mittelfristig wirklich etwas gewonnen; verloren hat sie kurzfristig auf jeden Fall, denn sie zeigt sich machtlos ob einer Verletzung ihres Staatsgebiets.

1.3 Europäische Union

Für die Europäische Union ist der türkische Angriff eine politische Katastrophe. Durch das EU-Türkei-Abkommen von 2016, umgangssprachlich „Flüchtlingsdeal“ hat die Türkei die Europäische Union in Geiselhaft genommen. Allen humanitären Lippenbekenntnissen zum Trotz kann sich die Staatengemeinschaft den Bruch mit der Türkei nicht leisten. Die Staatengemeinschaft zeigt dadurch erneut ihre Handlungsunfähigkeit auf dem internationalen diplomatischen Parkett.

1.4 Iran

Iran kann durch den türkischen Angriff nur gewinnen. Es war zu keiner Zeit das erklärte Ziel der Türkei, den syrischen Staat zu beseitigen. Stattdessen wird durch dessen Schwächung die Notwendigkeit für eine engere Bindung an die befreundete Regionalmacht samt wachsender Abhängigkeit größer. Auch die indirekte Waffenhilfe der Türkei für den sogenannten Islamischen Staat durch Schwächung dessen kurdischer Gegner führt für Assad zur Notwendigkeit der Aufstockung iranischer Truppenkontingente in Syrien. Iran steigt dadurch weiterhin zur Regionalmacht auf und deht seine Einflusssphäre an die Grenzen seines Erzfeindes Israel aus.

1.5 Russland

Russland hat keine eigenen Interessen am Nahen Osten. Syrien und Russland sind traditionell Verbündete und das Assad-Regime benötigt Russland als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Andererseits hat seit einiger Zeit in den dipolmatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland Tauwetter eingesetzt; sogar Verträge über Rüstungsgüter wurden geschlossen. Das Schicksal von Rojava ist für Russland nicht von Belang; es erscheinen als Bauer auf dem Schachbrett der Großmächte. Putin kann sich so, vor allem nach dem Rückzug der US-Truppen von der syrisch-türkischen Grenze, als neutraler Diplomat profilieren und dadurch seine Reputation als Gegenpol zur unter Trump unberechenbar gewordenen USA in der arabischen Welt steigern.

1.6 NATO

Die NATO steht nach dem Vorstoß des NATO-Mitglieds Türkei vor einem Dilemma, in das sie vor allem der Abzug der US-Truppen gebracht hat. Sie hat die kurdischen Streitkräften im Kampf gegen den Islamischen Staat mit Waffen versorgt hat, die nun von der Türkei zum casus belli erhoben werden. Während die fortwährende Stationierung von US-Truppen auf de-facto-kurdischem Territorium zum Patt führte, da die Türkei keine NATO-Verbündeten angegriffen hätte, hat Trump die NATO ohne Not in eine Zwickmühle manöviert. Sie kann durch den türkischen Angriff nur verlieren, da sie ihre (temporären) Verbündeten, den Kurden, in den Rücken fallen muss oder sie gegen ein (dauerhaftes) Mitgliedsland unterstützen müsste. Rojava ist auch für die NATO nur ein Bauer, der ohne Kompensation und mit langfristigem Imageverlust geopfert wird.

2 Es gibt keinen „Deep State“

Abseits dieser sich diametral gegensätzlich darstellenden Schachzüge der beteiligten Mächte soll es aber „direkte Absprachen“ zwischen ihnen geben. Mit anderen Worten, die beteiligten Staaten spielten nur ein „hässliches Theaterspiel“ und ihre eigentlichen Interessen seien ganz andere. Worin diese eigentlichen Interessen bestehen, darin bleibt das Traktat absichtlich vage. Konkret als wichtigster Punkt ist der Angriff auf „eines der zentralen Standbeine der gesellschaftlichen Entwicklung: die Frauenrevolution“ genannt, als ob das vorrangige gemeinsame Ziel von NATO und Russland trotz all ihrer Differenzen die Zerschlagung der „Frauenrevolution“ wäre. Statt dessen nebulös wird den „imperialistischen Staaten“ der Wunsch nach der „Reorganisierung des mittleren Ostens [. . . ] wie vor 100 Jahren“ in den Mund gelegt.

2.1 Es existiert kein Gemeininteresse an der Zerschlagung von
Rojava oder Syrien

Fakt ist, dass vor 100 Jahren im Vertrag von Sèvres die Siegermächte des Ersten Weltkriegs das osmanische Territorium untereinander aufteilten. Sèvres liegt nicht nur geografisch auf einer Linie mit Neuilly-sur-Seine, Saint-Germain, Trianon und selbstverständlich auch Versailles. Die Pariser Vorortverträge beendeten den Ersten Weltkrieg, wobei die Siegermächte zugleich nicht die Kriegsverursacher waren. Es ist daher nur verständlich (im damaligen Kontext mehr als in der historischen Retrospektive), dass diese Mächte ein gemeinsames Interesse an der Verhinderung eines erneuten Kriegszustands zeigten und den besiegten Aggressoren durch territoriale Annexionen die Möglichkeit der baldigen Kriegsführung nehmen wollten. Dass der Vertrag von Versailles ein Machwerk des internationalen Imperalismus sei, wurde bald auch zum Narrativ der NSDAP und ist heutzutage noch das Argument schlechthin jedes Geschichtsrevisionisten. Die erneute Zutageförderung des Vertrags von Sèvres in diesem Zusammenhang höhnt daher jeglichem geschichtlichen Zusammenhang. Als Treppenwitz bleibt noch zu erwähnen, dass nach Sèvres den Kurden ein eigener Staat zugestanden wurde. Unter der Annahme, alle Großmächte hätten tatsächlich ein gemeinsames Interesse an einer Aufteilung Rojavas, verstecken sie es sehr gut. Es gibt keine Resolution im UN-Sicherheitsrat zum Thema Syrien, die nicht an mindestens einem Veto der ständigen Mitglieder gescheitert wäre. Fakt ist, nur durch die Entfernung Rojavas von der Karte würde noch keine terra nullius geschaffen, sondern Syrien als de-jure-Souverän würde das Gebiet beanspruchen. Aufgrund der Positionierung der Europäischen Union gegenüber Assad kann dies nicht im Interesse der ständigen Mitglieder Frankreich und Großbritannien sein. Auch die Weltmacht USA kann keinen Einfluss auf Syrien geltend machen. Der weitere Gedanke, das gesamte Gebiet des syrischen Staates, also sowohl den de-facto-Souverän als auch den de-jure-Souverän auszuschalten, um die gesamten Region wie nach Sèvres einem Vökerbundmandat zu unterstellen, oder alternativ brute-force zu kolonialisieren, ist im 21. Jahrhundert ein phantastisches Werk, das noch nicht einmal Putins Expansionsplänen entsprungen sein kann.

2.2 Die Juden sind an allem schuld

An Phantasie kann es diese von Riseup4Rojava BRD proklamierte Weltverschwörung, laut der die tatsächlichen Handlungen und Erklärungen der Staaten nicht mit ihren beabsichtigten Zielen übereinstimmen und diverse Machthaber keine Macht haben, sondern von dunklen Mächten (hier den imperialistischen Staaten – welche genau, bleibt im Unklaren) gelenkt werden, problemlos mit den Protokollen der Weisen von Zion aufnehmen. Tatsächlich, von der imperalistischen Neuordnung des Nahen Ostens unter Rückgriff auf das britische Mandatsgebiet über Palästina zwischen 1922 und 1948 bis zum Antisemitismus ist es ein sehr kurzer Schritt, denn das Hauptprodukt dieses Mandats über Palästina war die Entstehung des Staates Israel auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs. Eine undifferenzierte Beharrung, die imperalistischen Mächte hätten eine „Ordnung [. . . ] gegen die Interessen der lokalen Bevölkerung“ nach Sèvres durchgesetzt, ist daher gleichbedeutend mit dem Satz: Die imperialistischen Mächte haben den Staat Israel nach Palästina gepflanzt, worauf weder sie noch er eigentlich ein Recht gehabt hätten. Und mit dem Nachsatz, Riseup4Rojava BRD sage „klar, dass diese Entscheidungen [. . . ] nicht akzeptiert werden, diese haben keinerlei moralisch-politische Legitimität“, redet die Organisation den Leugnern des Existenzrechts von Israel nach dem Munde. Vor allem, da der Staat Israel faktisch der größte Nutznießer der Neuordnung des Osmanischen Reichs wurde – ohne Sèvres und Völkerbundmandat wäre dieser Schritt nie möglich gewesen –, schwingt im Traktat von Riseup4Rojava BRD die Konnotation mit, die Türkei habe kein echtes Interesse an der Besetzung Rojavas, die Großmächte spielten nur ihr „Theaterstück“, ergo müsse der Regisseur respektive Puppenspieler die Macht mit den wahren Interessen im Nahen Osten sein. Dieses Narrativ bedient zutiefst antisemitische Vorurteile und schürt Ressentiments, selbst wenn nicht konkret auf Israel, sondern die Okkupation Rojavas angesprochen ist. Die Argumente, die Riseup4Rojava BRD vorbringt, sind dieselben.

2.3 Es existiert kein Einzelinteresse am Erhalt von Rojava

Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Konzept Rojava eine Bedrohung für das heutige gesellschaftliche Staatsvorstellungen darstellt. Wenn nämlich gesellschaftliche Gruppierungen in einigen Gebieten der Welt ihre Selbstverwaltung übernehmen, dann ist nicht gesichert, dass sie es auch in anderen könnten. Rojava ist ein Angriff auf die staatsphilosophische Dreifaltigkeit Macht – Gebiet – Bevölkerung, wenn nämlich die Bevölkerung auf einem Gebiet die Zentralmacht ablehnt und sich selbst konstituiert. Die theoretischen Hintergründe dieses Gedanken sind mit dem Stichwort Linksnationalismus sowohl in historischer als auch gegenwärtiger Hinsicht zu umfangreich, um sie hier kurz abzuhandeln. Wichtig ist nur, dass er, ohne zu werten, seit seinem Aufkommen im 19. Jahrhundert eine Gefahr für die Staatenordnung dargestellt hat und im 21. Jahrhundert immer noch darstellt. Neben der Vorbildrolle Rojavas als Gegenentwurf zu den religiös-autoritären Regimes in der Region, mit der es als gefährliche Blaupause zur Revolution für die eigene Bevölkerung in den dortigen Staaten dienen kann, ist kein bürgerlicher Staat an der Existenz eines solchen de-facto-Staatsgebildes interessiert. Abseits dieser generellen Überlegung existiert wie obig geschildert auch kein Partikularinteresse (mehr) an der Erhaltung eines geschlossenen kurdischen Gemeinwesens. Nach dem erfolgreichen militärischen Sieg über den sogenannten Islamischen Staat gilt klassisch:
Der Kurde hat seine Arbeit getan, der Kurde kann gehen.

3 Fazit

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir als linke Gruppierung der kurdischen Bevölkerung und dem Projekt Rojava Solidarität entgegen bringen müssen. Die Forderungen von Riseup4Rojava BRD sind richtig, doch sie fußen auf den falschen und höchst gefährlichen Argumenten. Es ist nicht gleichgültig, mit welcher Begründung ein Ziel verfolgt wird. Wir behaupten nicht, dass diese Organsiation mutwillig antisemitische Stereotype reproduziert, geben aber zu bedenken, dass sie antisemitische Stereotype reproduziert. Die Handlungen aller beteiligten Staaten decken sich mit ihren strategischen Interessen oder sind erzwungen. Es benötigt nicht die Existenz dunkler Mächte im Hintergrund, um sie zu erklären. Viel eher hingegen spricht die Postulierung einer Existenz solcher Mächte den türkischen Staat als Hauptprofiteur des Krieges von seiner Verantwortung frei. Erdogan wird nicht mehr als expansionistischer Kriegstreiber betrachtet, vom Akteur wird er zur bloßen Figur. Diese Absolution hat er nicht verdient.